Auschwitz - Birkenau
Dort, wo man Bücher
verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen (Heinrich
Heine)
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Durch dieses Tor
fuhren die Züge, berstend gefüllt mit Menschen. Und alle fuhren
sie leer zurück....
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Es gibt nur eine Rasse - den
Menschen!
Es gibt nur eine Religion - die Liebe!
Es gibt nur eine Welt. Oder überhaupt keine Welt!
Sioma Zubicky
Als Jugendlicher
in Auschwitz, Bericht eines Überlebenden: [....] TRANSPORT "Am 2. September 1943
um 10.00 Uhr verließ der Transport 59 Paris/Bobigny. Er bestand aus 992
Juden jeden Alters, Männer, Frauen und Kinder. Obersturmführer Wannenwacher
befehligte ihn. Bei der Ankunft am 4. September kamen 232 Männer
und 106 Frauen ins Lager. Die Männer bekamen die Wir fuhren in einem voll
gestopften Güterwagen. Unsere Notdurft mussten wir auf einem Kübel verrichten,
der bald überschwappte. Die Notdurft! Nie war diese an sich natürliche
Funktion erniedrigender. Wir waren gezwungen, allen Anstand aufzugeben,
wir verwandelten uns in Körper, die sich vor allen anderen entleerten.
In jenem September war es erstickend warm. Bald stank der ganze Wagen
nach Urin und Fäkalien. Die mit Stacheldraht versehenen Luken ließen nur
wenig Luft herein. Ich sehe meine Mutter vor mir, sie schwitzte und keuchte
... Wir hatten seit langem das Zeitgefühl verloren. In dem ständigen Halbdunkel
verschwammen Tage und Nächte.
Der Zug hielt oft an und
rangierte hin und her, schien das Gleis oder die Lokomotive zu wechseln.
Wo waren wir?
Wir hatten seit langem
aufgehört, miteinander zu sprechen. Der Übergang von einigermaßen zivilisierter
Anpassung zu hemmungsloser Gereiztheit war schnell gegangen. Jeder kämpfte
um sein kleines Revier.
Die Glücklichen, die einen
Platz in der Nähe der Luken erwischt hatten, ließen ungern jemanden heran.
Wie man sich auch bewegte, ständig stieß man an den Körper eines anderen.
Die Ellenbogen wurden spitzer, die Gehässigkeit immer handgreiflicher.
Doch allmählich stumpften wir ab. Sogar die Kleinkinder hörten auf zu
wimmern. Alle versanken in einer Art Dämmerzustand. Der Hunger machte
sich bemerkbar, aber er war nicht das Schlimmste. Durst und Gestank machten
uns noch mehr zu schaffen. Das Brot, das wir in Drancy bekommen hatten,
war schnell aufgegessen oder blieb einem im Halse stecken.
Plötzlich blieb der
Zug ruckartig stehen. Schüsse und Hundegebell waren zu hören. Ein Fluchtversuch?
Wir hatten also Frankreich noch gar nicht verlassen. Die an den Luken
konnten beobachten, wie zwei Flüchtige erschossen wurden und die Schäferhunde
den dritten einholten.
Unruhe verbreitete sich
in unserem Wagon. Ein paar Jugendliche hatten nämlich gegen den Willen
der Mehrheit begonnen, an den Bodenbrettern zu sägen. Mit ihren stumpfen
Behelfswerkzeugen waren sie nicht weit gekommen, doch die Spuren ließen
sich nicht verbergen. Der Zug stand noch immer still, wir hörten nur
das Zischen der Lok. Dann näherten sich Stimmen und Gebell. Wurden die
Wagen durchsucht? Jawohl, SS-Leute durchstöberten den ganzen Zug. Bald
waren sie auch bei uns.
Die Tür wurde geöffnet,
frische Luft strömte herein. Sie trieben uns in Freie. SS-Männer mit
der Maschinenpistole im Anschlag umringten uns und verzogen wegen des
Gestanks angeekelt das Gesicht. Sie beschimpften uns als „Judenschweine",
durchsuchten den Wagen und fanden Sägespuren. Wir hatten zwei Minuten,
die Schuldigen anzugeben, sonst würden sie uns alle erschießen.
Wir waren wütend auf
die jungen Burschen, die unser Leben aufs Spiel gesetzt hatten. Aber
alle schwiegen, vielleicht weniger aus Heldenmut als aus Erschöpfung
und Apathie. Diesmal blufften die Nazis, niemand wurde erschossen. Das
Endziel war ja - sie wussten es, wir nicht - Auschwitz, eine schlimmere
Strafe, als durch einen Schuss zu sterben.
Alles hat einmal ein
Ende, selbst die schlimmsten Qualen. Auch die höllische Fahrt, die wir
in Drancy angetreten hatten, hatte eine Endstation - in jeder Hinsicht:
Auschwitz. Die Türen wurden aufgerissen, die Dunkelheit von Abenddämmerung
abgelöst. Sie blieben offen stehen, ohne dass etwas passierte. Der Gestank
von ungewaschenen Menschenkörpern, von Urin, Exkrementen und Erbrochenem
verringerte sich spürbar.
Aus allen Richtungen
hörte man Kommandorufe: „Los, raus, schneller, schneller!" Einige aus
unserem Wagen, darunter ich, sprangen auf den Bahndamm hinunter. Ich
war wie berauscht von der frischen Abendluft und geblendet von den starken
Scheinwerfern. Auf einmal stürzten sich blauweiß gestreifte Figuren
auf unseren Wagen und brachten die Zögernden auf Trab. Sie halfen Alteren
oder Behinderten und trugen zuletzt die Kranken, Sterbenden und Toten
hinaus.
Neue Kommandos. Wir
wurden hin und her gezerrt, getrennt, erneut herumgejagt. Alles ging
so rasch, dass man gar nicht zu sich kam.
„Alles liegen lassen!',
schrien die SS-Männer und meinten unser „Gepäck". Aber wer dachte schon
an so etwas in dieser Situation?
Wie viele verstanden überhaupt, was da gebrüllt wurde? Meine
Mutter war eine von den wenigen, die sich nicht von ihrer erbärmlichen
Tasche trennen konnten. Sie hielt sie krampfhaft in der einen Hand,
an der anderen zerrte sie meinen kleinen, leichenblassen, verschreckten
Bruder hinter sich her. In dem allgemeinen Durcheinander hörte ich sie
verzweifelt rufen: „Warte auf mich!"
Gott, wie wütend war
ich, der Teenager, auf meine Mutter! Es war mir peinlich, dass sie
sich so anstellte, so unbeholfen war und die falschen Dinge sagte.
Warum sah ich nicht, wie sie litt? Warum begriff ich nicht, dass sie
sich einfach um Victor und mich sorgte?
Ich war ganz mit mir
selbst beschäftigt. Was würde als Nächstes passieren? Ich kannte die
Nazis gut, wusste, dass sie absoluten Gehorsam forderten. Ich hatte
den Befehl gehört, den Wagen ohne Gepäck zu verlassen. Und da kommt
meine Mutter und klammert sich an ihre wertlose Tasche.
„Beweg dich endlich!",
zischte ich. Im nächsten Augenblick
wurde ich in eine Gruppe von Männern aus einem anderen Wagon gestoßen.
Weitere kamen hinzu, alles Männer. Wir wurden zu einer Marschkolonne
formiert, immer fünf nebeneinander.
Es war kompliziert.
Wer nicht kapierte, wo sein Platz war, wurde grob in die Formation
gestoßen. Ein SS-Offizier begann, uns nach rechts und links aufzuteilen.
Die Reitpeitsche, mit der er auf uns wies, bewegte sich schnell hin
und her.
Meine Mutter und mein Bruder standen
in einiger Entfernung in einer Gruppe, die hauptsächlich aus Alteren,
Behinderten, Frauen und Kindern bestand. Lastwagen warteten, die
Motoren im Leerlauf. Ich beobachtete, wie meine Mutter und mein
Bruder einstiegen und dachte: Schön, dass sie nicht zu Fuß gehen
müssen ... Am klarsten sehe ich sie in meinen
Träumen. Entkleidet in der Gaskammer
(sie mussten sich vor allen
anderen ausziehen!)
im Gedränge, außer
sich vor Schrecken (die Angst
muss ihre Eingeweide gesprengt haben, es zieht meine
zusammen.)
Menschen, die plötzlich
fassen, dass so nicht geduscht wird (das
Herz hämmert und schreit - ich will raus!)
Bevor sie nachdenken
können, steigt das Gas zur Decke, verhindert
die Sauerstoffaufnahme.
Die Menschenmasse drängt
instinktiv zu den Türen (dort
kamen wir herein, dort kommen wir hinaus!)
Die Ersten, wahrscheinlich
die Kinder, fallen und werden in der Dunkelheit getreten.
Ihre Schädel platzen. Die Ersten sind schon tot. Ist mein Bruder unter
ihnen?
Einige versuchen hinaufzuklettern,
wo noch kein Gas ist.
Einige ziehen sich
an den Wänden hoch, brechen
ihre Fingerspitzen.
Bei einigen sind die
Arme genauso lang wie der Körper.
Sind sie aus den Schultergelenken
gerissen worden?
Ich stehe hilflos da.
Alle sind tot. Meine
Mutter und meinen Bruder gibt es nicht mehr.
Sie sind Teil einer
Masse verschlungener Menschenglieder. Eines von Schweiß, Urin, Kot
und Blut stinkenden Leichenhaufens.
Ich stehe hilflos dabei, der einzige
Lebende. Spiel, Zirkuskind, spiel |